[Das Journal]  [Kurzgedicht der Woche]  [Archiv]  [Maghrebinische Gedichte]  [Sperling]  [Texte]  [Impressum]  [News]  [Links]

 

 

 

 

 

Das große Geheimnis, das hinter allen Vorgängen und Dingen der Umwelt steht, wird manchmal schemenhaft sichtbar oder fühlbar, wenn wir mit einem Menschen reden, in einer Landschaft stehen oder wenn Blumen oder Gegenstände plötzlich zu uns sprechen. - Denken Sie: ein Mensch sitzt uns gegenüber, und plötzlich erscheint in dem Gespräch über seine eigenen Erlebnisse dieses Unfassbare. Es verleiht seinen Zügen seine ureigenste Persönlichkeit und erhebt sie doch gleichzeitig über das Persönliche. Wenn es mir gelingt, mit ihm in dieser, ich möchte fast sagen Ekstase in Verbindung zu treten, kann ich ein Bild malen, und doch ist dieses, so nahe es ihm selbst ist, eine Umschreibung des großen Geheimnisses, und es stellt im letzten Grunde nicht die einzelne Persönlichkeit dar, sondern ein Stück der in der Welt schwebenden Geistigkeit oder des Gefühls. Die Möglichkeit, sich so weit zu entselbsten, daß man mit dem anderen diese Verbindung

eingehen kann, ... aus diesem Stadium, sei es durch Worte oder Farben oder Töne, zu schaffen, ist Kunst.

 

Ernst Ludwig Kirchner

Brief an E. Grisebach, 1. Dezember 1917. Zitiert nach Walter Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. Reinbek bei Hamburg 1960, S. 48.