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Hotel am Meer

 

 
„Der Chef hat die Kinder weggenommen“, radebrechte das Zimmermädchen und zeigte auf das Meer, das durch die Bäume leuchtete.
Sie saßen unter dem Sonnendach. Er sah sie an.
Vorbei, dachte er, aus für immer, und seine Hand umklammerte das Glas, dessen Kälte er fühlte.
Gleich zerbricht es, dachte er und sah schnell in den Garten hinaus, wo die Bougainvillea die Mauer überwucherte.
Seine Finger lockerten sich ein wenig.

„Es ist nicht zerbrochen, und ich glaubte, es sei gleich kaputt“, sagte er.
„Was?“ fragte sie, obwohl sie wusste, was er meinte.

„Das Glas“, antwortete er und versuchte ein Lächeln.
Sie sah ihn an. Er starrte ins Glas. Sie schwiegen.
Im Schatten der Hauswand saß die große, schwarzweiße Mischlingshündin und ließ sie nicht aus den Augen. Ihr Gesäuge war so prall, dass es den Steinfußboden der Terrasse berührte.

Jede Nacht raschelte es in den Oleanderbüschen unter ihrem Fenster, und manchmal hatten sie das Wimmern der Jungen gehört.
„Marinatos hat die Welpen ertränkt“, sagte er.
Sie antwortete nicht. Auf dem Meer war ein Segel.
Er goss Eiswasser in den Ouzo, der weiß wurde wie Milch. Auf dem Tisch stand ein Teller, darauf  lag eine angeschnittene Wassermelone. Sie nahm eine dicke Scheibe und begann langsam zu essen. Ihre kleinen Zähne gruben sich in das Fruchtfleisch.
Sie ist fülliger geworden, dachte er.
„Dein Schnurrbart wird allmählich grau“, sagte sie.

 Auf der Serviette neben dem Teller waren Spuren ihres Lippenstifts.
Er war ein bisschen betrunken. Das Segel entfernte sich. Plötzlich schwiegen die Zikaden. Nach kurzer Dämmerung wurde es schlagartig finster.
Er lag die ganze Nacht wach. Er wusste, dass auch sie nicht schlief und mit abgewandtem Gesicht ins Dunkel starrte. Er machte eine leise Bewegung auf sie zu, aber sie rührte sich nicht.

Es war heiß im Zimmer. Das Fenster stand offen. Sie hörten die Geräusche der Hündin, die in den Oleanderbüschen nach ihren Jungen suchte.

 

 

© Hubertus Thum 1996