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Katze

 

 

Am Strand lagen Steine, große zerklüftete Blöcke.
Geordnetes Chaos, dachte er. Schriftzeichen, von denen man gern wüsste, was sie bedeuten. Er zog den Hut in die Stirn und blinzelte, um das Wesentliche der Formen und Farben zu sehen.
Die Steine ließen ihn nicht mehr los.
Er hockte sich in den heißen Sand, legte den Rucksack ab und packte seine Geräte aus: den Farbkasten, die Bambusmatte mit den Pinseln, das Wassergefäß, den alten, oft gewaschenen Lappen, sein Malbrett, eine Rolle Klebeband und das sorgfältig verpackte Aquarellpapier. In einer zerbeulten Blechflasche war Wasser. Er nahm einen Schluck und spie es wieder aus. Es war lauwarm. Er füllte reichlich Wasser in das Gefäß und drückte es in den Sand, um es standfest zu machen.
Vielleicht sollte ich mit Meerwasser malen, dachte er.
Auf dem Malbrett befestigte er mit Klebestreifen ein Blatt Aquarellpapier Canson Montval vierundzwanzig mal zweiunddreißig Zentimeter. Er legte das Malbrett in den Sand und beschwerte die obere linke und die untere rechte Ecke mit Steinen. Er klappte den Malkasten auf. Aus einem Zerstäuber sprühte er Wasser auf die Farbsteine in den Näpfchen. Dann entrollte er die Bambusmatte. Er war unschlüssig, welchen Pinsel er nehmen sollte. Zuerst zog er den französischen Naturkielpinsel heraus, wog ihn in der Hand und steckte ihn in die Gummischlaufen zurück. Er entschied sich für den Pinsel Größe 14 aus Rotmarderhaar.
Kniend mischte er auf der Palette des Farbkastens Indischgelb und etwas lichten Ocker mit viel Wasser und zog, etwa fünf Zentimeter unter dem oberen Papierrand, mit einer einzigen schnellen Bewegung einen breiten, leicht gewölbten Strich. Das Geräusch der Pinselhaare auf dem trockenen Papier hatte etwas Beruhigendes.
Über den gelben Streifen setzte er mit stark verdünntem Preußischblau einige Flecke, um den Himmel anzudeuten. Dann malte er ohne nachzudenken, sehr rasch und sicher, nass in nass, mit Elfenbeinschwarz, Indigo und Gebranntem Siena die Steine, in die er einige ultramarinblaue Tupfen fließen ließ.
Ein bisschen Indigo blühte in den gelben, noch feuchtglänzenden Streifen aus.
Mein Leben lang male ich nichts anderes als Steine, Gräser und Meer, dachte er. Dennoch ist zweifelhaft, ob ich es jemals lernen werde. Immer zerstöre ich zu viel Weiß.
Während er malte, kniete die Frau hinter ihm, das Kinn auf seine linke Schulter gestützt, die Arme um seine Brust geschlungen. Er spürte ihre Brüste durch den dünnen Stoff seines Hemdes.
"Du störst mich beim Malen", sagte er.
Sie nahm das Kinn von der Schulter und lehnte ihren Kopf an seinen Rücken.
Plötzlich war sie nackt und lag neben ihm im Sand. Sie zog seine linke Hand an die Brust, dann auf ihren Bauch. Der Bauch war sehr warm.
"Katze", sagte er.
Auf ihrer Haut war Coelinblau von seinen Fingern.
Coelinblau ist richtig, dachte er und malte unbeirrt weiter. Dann hörte er auf zu malen. Über dem Sand flimmerte die Luft.

 

 

© Hubertus Thum 1996